Ob Chat, Mail oder KI: Seelsorge im Digitalen stellt neue Fragen und eröffnet zugleich wertvolle Chancen. Echte Begegnung ist auch online möglich – und wird für viele Menschen zu einem wichtigen Rettungsanker.
Von Achim Blackstein für „Digital Glauben“ Nr. 1/25, CC BY-SA 4.0
Gelegentlich spricht man noch von den „Neuen Medien“ und meint damit das Internet allgemein oder spezielle Anwendungen, wie die Sozialen Medien (Facebook, Instagram) und Messenger-Dienste (z.B. WhatsApp oder Signal). Dabei sind diese Medien eigentlich gar nicht mehr neu. Die erste E-Mail wurde 1984 in Deutschland empfangen und seit Mitte der 90er Jahre steht das Internet der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung.
Die Telefonseelsorge Deutschland hatte sich als erste um die Online-Beratung bemüht (online.telefonseelsorge.de). 1995 begannen erste Stellen, neben dem Telefon auch einen digitalen Kanal anzubieten. Menschen konnten sich per Chat oder E-Mail an die Seelsorgenden wenden. 2003 kam die Chatseelsorge (www.chatseelsorge.de) der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers in Kooperation mit der Rheinischen Landeskirche als kleines, aber feines Hilfsangebot dazu. Rund 1000 Einzelgespräche werden pro Jahr während der Öffnungszeiten der Chatseelsorge geführt. Die sehr viel größere Telefonseelsorge wird von insgesamt fast 100.000 Anfragen jedes Jahr erreicht. Der Bedarf an Seelsorge ist so hoch, dass es zunehmend schwierig wird, der Nachfrage gerecht zu werden. Es bräuchte mehr ehrenamtliche Mitarbeitende, die bereit sind, sich auf die durchaus komplexen und herausfordernden Themen einzulassen und die Chancen der digitalen Kanäle zu nutzen.
Chat und Mail sind im Moment immer noch die bewährten Formate digitaler Seelsorge, zumindest wenn man an institutionalisierte, datengeschützte Angebote denkt und einen entsprechenden Datenschutz bieten möchte. Die Sozialen Medien mit ihren Gruppen und Influencer-Kanälen sind natürlich ebenfalls ein wichtiger Ort für Seelsorge, wenn auch mit geringem Datenschutz.
THEMEN IN DER DIGITALEN SEELSORGE
Sehr offen und ohne großes Zögern werden in Mail und Chat die persönlichen Sorgen und Themen sehr direkt angesprochen. Trauer, Einsamkeit, Schulden, Missbrauchserlebnisse, Suchterkrankungen und psychische Herausforderungen werden schriftlich in Worte gefasst. Aber auch persönliche Alltagserlebnisse, schulische Probleme, überstandene Operationen oder Infekte und bevorstehende Termine wie Bewerbungen, Arztbesuche oder Auseinandersetzungen mit Ämtern und Behörden sind Inhalt der digitalen Seelsorge. In 8 % der Telefonate der Telefonseelsorge geht es um Suizidalität. Im E-Mail-Kanal sind es fast 40 % der Anfragen und im Chat über 27 %. Der digitale Raum öffnet Menschen offenbar noch mehr, als es das Telefon oder auch der face-to-face Kontakt kann. Eigentlich gibt es kein Thema, dass nicht digital besprochen wird und besprochen werden kann.
Die Menschen suchen und wertschätzen die Anonymität der Angebote, den niedrigschwelligen Einstieg in die Beratung und die Möglichkeit der Steuerung des Gesprächs. Wenn es nicht mehr passt oder gefällt, kann die anfragende Person einfach das Gespräch beenden oder abbrechen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Seelsorgende wissen (erstmal) nicht, mit wem sie schreiben. Sie kennen weder den Namen, das Geschlecht, Alter oder Herkunft der anfragenden Person. Und da sich die Menschen mit einem Nicknamen anmelden, und nicht ihren Klarnamen nutzen, lassen sich noch nicht mal von dort Rückschlüsse auf die Person ziehen.
In der digitalen Seelsorge tappen Seelsorgende also erst einmal im sprichwörtlichen Dunkel, und das ist gut so. Die Anonymität gibt der anfragenden Person die Freiheit, sich offen und ungezwungen zu äußern. Gleichzeitig begegnet sie sich auch verstärkt selbst. Chat und E-Mail sind beides schriftliche Kanäle. Das heißt, die eigene innere Stimme darf in Worte gefasst, reflektiert, niedergeschrieben, vielleicht erneut reflektiert, in der Wortwahl verändert werden, ehe es abgeschickt und dem anderen Menschen zum Lesen gegeben wird. Wer schreibt, schaut sich selbst beim Denken zu. Manchmal reicht das schon. Seelsorgende stehen dann vor der Herausforderung, aus diesen Worten ein Bild entstehen zu lassen: Wer ist das auf der anderen Seite? Was ist das Thema und was braucht diese Person?
In der digitalen Seelsorge ist eine wertschätzende, zugewandte und urteilsfreie Haltung entscheidend, die den Menschen in seiner Individualität ernst nimmt und auch über digitale Medien echte Nähe ermöglicht. Eine fundierte Ausbildung und regelmäßige Supervision sind wichtig.
ZWEI KANÄLE DOMINIEREN (NOCH)
Im Chat wird zeitgleich, synchron, miteinander geschrieben. Hier ist also der Platz für akute und aktuelle Anliegen, die einer mehr oder weniger sofortigen Betrachtung bedürfen. Das Schreibgespräch per E-Mail verläuft asynchron. Manchmal liegen zwischen den jeweiligen Mails ein paar Tage. Die Schilderung des Problems und die Antwort der Seelsorge sind also nicht unbedingt passgenau. Manchmal hat sich das Problem bereits verändert, vergrößert oder auch gelöst. Die E-Mail eignet sich besonders für langfristige Herausforderungen und Problemstellungen, die nicht sofort geklärt werden müssen. Sie ermöglicht es, in Ruhe in die Tiefe zu gehen, sich Zeit zum Formulieren zu nehmen und ausführlich zu schreiben. Auch junge Menschen schreiben immer noch gerne E-Mails. Wobei die digitale Seelsorge von Menschen aller Altersstufen und Hintergründe genutzt wird. Oft sind anfragende Personen auch nicht nur auf einer Seelsorge-Plattform aktiv, sondern fragen zeitgleich auf anderen Seiten ebenfalls nach Beratung. Bei der Chatseelsorge hat sich mittlerweile eine richtige Community gebildet, die regelmäßig zusammenkommt und dennoch offen für neue Menschen ist.
KI UND DIGITALE SEELSORGE
Inzwischen wird auch Künstliche Intelligenz (KI) zunehmend als Seelsorgerin oder Beraterin genutzt. Die Anonymität ist dabei noch ausgeprägter, da die Kommunikation ausschließlich mit einer Maschine stattfindet. Sprachmodelle wie ChatGPT kommen vermehrt zur persönlichen Entlastung und Beratung zum Einsatz – und die Antworten fallen oft überraschend hilfreich und lösungsorientiert aus, zumindest auf den ersten Blick. Besonders Jugendliche fühlen sich davon angesprochen, zumal sie Fragen rund um Datenschutz oder ethische Bedenken häufig ausblenden.
Für die Seelsorge stellt KI eine ernstzunehmende Herausforderung dar. Sie fordert dazu heraus, die besonderen Stärken des menschlichen Kontakts ob analog oder digital neu zu bedenken, sichtbar zu machen und erlebbar in den Mittelpunkt zu stellen. Digitale Seelsorge bleibt damit eine spannende Aufgabe zwischen Technik und Menschlichkeit und zeigt, dass echte Nähe auch über Bildschirme hinweg entstehen kann.
Achim Blackstein
Pastor, Beauftragter der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers für Digitale Seelsorge und Beratung am Zentrum für Seelsorge und Beratung (Hannover), Onlineberater (DGOB), Ausbilder, Autor des Fachbuches „Digitale Seelsorge. Impulse für die Praxis“.
