Bielefeld (2mind) – Die den Landesjugendämtern gemeldeten Fälle von pädagogischem Fehlverhalten und Gewalt in nordrhein-westfälischen Kitas steigen deutlich. Wie die „Neue Westfälische“ (NW) gestern mitteilte, ist die Entwicklung im Rheinland besonders eklatant. Berichte über Gewalt und Fehlverhalten in Kitas kommen allerdings aus mehreren Bundesländern. Das liegt auch an einer gestiegenen Sensibilität.
Das rheinische Landesjugendamt erfasste laut NW 2018 noch 34 Fälle von pädagogischem Fehlverhalten, 2020 waren es 120 und 2021 bereits 222 Fälle. Ein deutlicher Anstieg zeigt sich auch bei körperlicher Gewalt (42 Fälle in 2018, 2021 waren es mehr als doppelt so viele) und bei sexuellen Übergriffen (von38 Fällen in 2018 auf 76 in 2020 und 2021). In Westfalen-Lippe wurden weniger Fälle erfasst, jedoch zeigt sich auch hier ein deutlicher Anstieg.
Erschreckende Berichte
Eine Erzieherin aus Ostwestfalen-Lippe berichtet gegenüber der NW von Gewalt gegen Kinder: „Ich habe Kinder gesehen, die in ihrem eigenen Urin sitzengelassen wurden, als Strafe, weil es schon die dritte vollgepinkelte Hose in drei Tagen war“, so die Antje B. genannte Pädagogin. Sie habe miterlebt, wie Kinder gewaltsam auf Stühle gesetzt und wie Stühle unter ihnen weggerissen wurden.
Nordrhein-Westfalen steht mit den steigenden Verdachtsmeldungen nicht alleine da. So hatte der Bayerische Rundfunk (BR) im Dezember die 76 Kita-Aufsichtsbehörden im Freistaat zu Fehlverhalten in Kitas befragt. Nach diesen Recherchen steigt auch in Bayern die Zahl der Verdachtsmeldungen zu Aufsichtspflichtverletzungen sowie zu seelischer oder körperlicher Gewalt. Zudem führte der BR Gespräche mit 61 Erzieher:innen und Kita-Leitungen. Auszüge daraus erschrecken: „Ein Kind hat Sprachprobleme. Im Morgenkreis äfft die Erzieherin immer wieder das Stocken und Stottern nach. Die anderen Kinder lachen.“ „Meine Kollegin schiebt einem Kind Kartoffeln in den Mund. Dabei hält sie die Hände fest und die Nase zu, damit das Kind schluckt.“ „Ein Kind wird immer auf dem Klo eingesperrt, wenn es sich ‘nicht benimmt’.“
Problembewusstsein nimmt zu
Woran liegt die steigende Zahl der Meldungen zu Gewalt und Fehlverhalten aus Kitas? „Über die Ursachen der steigenden Meldungen an Landesjugendämter ist wenig bekannt“, sagt Sabine Prott, die Leiterin des Geschäftsfelds Tageseinrichtungen der Diakonie RWL. „Die gestiegene Sensibilität in den Einrichtungen könnte meines Erachtens dazu ein Erklärungsansatz sein.“ So wurde etwa durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) im Jahr 2021 die Vorlage eines Schutzkonzeptes zu einer Voraussetzung für die Kita-Betriebserlaubnis.
Zudem arbeitet eine zunehmende Zahl an Einrichtungen mit Qualitätsmanagementsystemen. „Mehr als die Hälfte der evangelischen Tageseinrichtungen in Rheinland, Westfalen und Lippe arbeitet mit dem Bundesrahmenhandbuch zur Erlangung des Evangelischen Gütesiegels BETA“, so Prott, „einem Qualitätsmanagementsystem, in dem auch der Kinderschutz eine wichtige Rolle spielt.“
Sprecher beider Landesjugendämter führen die steigenden Fallzahlen laut NW ebenfalls auf eine erhöhte Sensibilisierung der Eltern, Erzieher und Träger zurück. Beide Landesjugendämter hatten 2020 eine Kampagne für Gewaltschutz durchgeführt.
Die Vorsitzende des Kinderschutzbundes NRW, Gaby Flösser, sieht allerdings noch einen weiteren Hintergrund. In dieser Situation schlügen sich der Personalmangel und die Überforderung nieder, sagte sie gegenüber der NW. Flösser weiter: „Das ist ganz klar politisches Versagen, weil sich niemand um die desaströse Lage in den Kitas kümmert.“ Auf politischer Ebene gebe es eine „Allianz des Nichthinschauens.“
Schutzkonzepte sensibilisieren
„Schutzkonzepte bieten eine Chance, Kita-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für Fehlverhalten zu sensibilisieren.“ So sieht es auch Gudrun Barbendererde, die Fachberaterin für Kindertageseinrichtungen in der Lippischen Landeskirche. Bei der Erstellung eines Schutzkonzeptes und dessen Verankerung in der täglichen Arbeit sei eine Unterstützung für die Kita-Leitungen wichtig. „Das ist keine Routineaufgabe, und Leitungen sind dabei schnell in einer Doppelrolle als Führungskräfte und Moderatoren.“ Die Landesregierung stelle für Fortbildungen inzwischen auch im Bereich Kinderschutz finanzielle Mittel zur Verfügung – die gab es bisher für Teamschulungen in alltagsintegrierter Sprachbildung -, um externe Fortbildner zu engagieren. „Ich würde mir wünschen, dass die Landesregierung Kitas jährlich vier Tage Sonderschließzeit für die Arbeit an der Konzepterstellung und -umsetzung und Qualitätssicherung verpflichtend bereitstellen würde“, so die Fachberaterin weiter.