Düsseldorf (2mind) – Das im Oktober 2021 verabschiedete Ganztagsförderungsgesetz garantiert ab August 2026 allen Kindern der ersten Klassenstufe an deutschen Grundschulen einen Platz in Ganztagsbetreuung. Und das trotz dem Mangel an pädagogischen Fachkräften und der mancherorts spartanischen Räume und Ausstattungen der Ganztagseinrichtungen. Um den Anspruch auf einen Ganztagsplatz in drei Jahren mit Qualität erfüllen zu können, hat die nordrhein-westfälische Landesregierung im Januar einen Expertenbeirat einberufen. Derzeit steht in NRW mit 392.500 Plätzen ein Ganztagsangebot für etwas mehr als die Hälfte aller Kinder im Grundschulalter zur Verfügung. Die qualitative Ausgestaltung dieses Angebotes stellt sich jedoch unterschiedlich dar, sagt Prof. Ulrich Deinet, der dem Expertenbeirat angehört.
„Die einheitlich aussehende Schullandschaft zerfällt ins sehr unterschiedliche Schulen mit sehr unterschiedlichen Ressourcen und Ausstattungen für den offenen Ganztag, was auch von der Frage abhängt, was eine Kommune finanziell leisten kann“, sagt Deinet, der am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Düsseldorf lehrt und forscht. „Selbst im reichen Düsseldorf sind die Unterschiede zwischen Schulen und Sozialräumen sehr gravierend.“
Schule als Lebensraum
Deinet verweist darauf, dass Kinder an Werktagen mehr Zeit in der Schule verbringen als danach wach zuhause. „Wir müssen uns damit beschäftigen, wie Kinder und Jugendliche den Lebensraum Schule erleben und wie sie ihn mitgestalten können“, so der Wissenschaftler. Früher lebten Kinder in einer Gleichaltrigenkultur im Stadtteil oder in der Familie; heute finde dieses gemeinsame Leben in der Schule statt.
Dabei seien für Kinder auch Rückzugsräume von großer Bedeutung – an denen es im offenen Ganztag mitunter fehle. Deinet weiter: „Viele für die Entspannung gedachte Räume wurden inzwischen allerdings in Gruppenräume umgewandelt, weil der Bedarf so groß ist.“
Miteinander von Schule und Jugendhilfe
Eine Besonderheit des offenen Ganztags liegt darin, dass hier „verschiedene Systeme an einem Ort zusammenarbeiten: Schule und Jugendhilfe, meist Wohlfahrtsverbände oder auch Elternvereine. Strukturelle Unterschiede müssen professionell bearbeitet werden“, so Deinet.
Dass dieses Miteinander gelingt, ist auch eine personelle Frage – und ein Grund, den Fachkräfteanteil im Ganztag hochzuhalten. Qualitätseinbußen beim offenen Ganztag erschwerten dessen Kooperation mit der Schule. Deinet weiter: „Die Lehrkräfte dort verfügen über Universitätsabschlüsse, und ohne qualifizierte Ganztagsmitarbeiter wird die Rede von der Begegnung auf Augenhöhe schwierig.“
Und es geht um organisatorische Entscheidungen, die eine Verschränkung von Schule und Jugendhilfe fördern. „An manchen Schulen gibt es ‚Mitarbeitendenzimmer‘ statt ‚Lehrerzimmer‘. Professionen der Mitarbeitenden an den Schulen haben sich diversifiziert, deshalb ist ein gutes Teambuilding wichtig. Im Blick auf Schule und Jugendhilfe müssen unterschiedliche Kulturen zusammengebracht werden“, sagt Deinet.
Dass es mit diesen multiprofessionellen Teams noch nicht überall gut läuft, hat auch Birgit Schröder beobachtet, die am Institut für soziale Arbeit (ISA) den Arbeitsbereich Jugendhilfe und Schule leitet. „Das betrifft auch die Schul- und Jugendhilfeplanung, die abgestimmt aufeinander laufen sollte, jedoch oftmals noch separiert läuft“, so Schröder.
Planungsprozesse neu denken
Zu einem abgestimmten Miteinander gehöre auch, dass die schulische Raumentwicklung in kommunalen Planungsprozessen und von Schulleitungen und Ganztagskoordinator:innen neu gedacht werde. Schröder weiter: „Stellen Sie sich vor, die Schule wäre komplett leer: Was brauchen Kinder über den ganzen Tag an Räumlichkeiten und Flächen?“ Angebote im Sozialraum – wie Bauspielplätze – und mögliche Kooperationspartner – wie Büchereien – sollten einbezogen werden. „Unter den Mitarbeitenden darf es das Pronomen ‚mein‘ Raum nicht mehr geben, die Nutzung von Räumen nur für den Unterricht oder nur für den Ganztag muss aufgebrochen werden.“
Sozialpädagogische Berufskollegs gefordert
Bei der Frage nach der Fachkräftequalität im offenen Ganztag sieht Schröder die Berufskollegs als Ausbildungsstätten in der Pflicht: „Gehört der offene Ganztag dort zum Portfolio? Ist die multiprofessionelle Zusammenarbeit im Curriculum verankert? Gibt es Weiterqualifizierungsangebote – etwa zur OGS-Fachkraft?“, fragt die Expertin.
Und schließlich müsse im offenen Ganztag die Bildungs- und Erziehungspartnerschaft mit Eltern stärker in den Blick genommen werden. In der Schule würden Eltern teilweise als Störenfriede wahrgenommen. Schröder weiter: „Wir wissen aber, dass eine vertrauensvolle Zusammenarbeit von Lehr- und pädagogischen Fachkräften mit Eltern bzw. Personensorgeberechtigten einen positiven Impuls für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder hat.“
„Personal backen können wir nicht“
Iris Solmaz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ISA und sieht im Personalmangel – neben dem Raummangel – die große Herausforderung für eine flächendeckende Einführung des offenen Ganztags. Solmaz dazu: „Wir müssen an diesem Mangel arbeiten, aber Personal backen können wir nicht.“
Dazu sei auch eine Nachqualifizierung von Quereinsteiger:innen wichtig – so, dass diese im Ganztag Fuß fassen und bleiben könnten. Und im Personal-Wettbewerb etwa mit Kitas müsse sich der offene Ganztag besser aufstellen. „Wenn wir nicht wollen, dass Fachkräfte aus dem offenen Ganztag in die Kita wechseln, müssen Arbeitsbedingungen verbessert und z.B. mehr Vollzeitstellen angeboten werden“, sagt Solmaz.
Bei der Ganztagsentwicklung sind aber nicht nur Schul- und Jugendhilfeträger gefordert. „Bei allen Planungen muss die Partizipation der Kinder eine Rolle spielen“, sagt Solmaz. „Bei Raumgestaltung und Konzeptentwicklung müssen die Kinder stärker gehört und aktiv beteiligt werden.“