Wechsel ins Erwachsenenalter ein Hauptkrisenherd

Kinder mit fetaler Alkoholspektrumstörung (FASD) in der Jugendhilfe

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Mönchengladbach (2mind) – Jochen Merkel ist Bereichsleiter bei der Hephata-Jugendhilfe. Der Diplom-Pädagoge und systemische Berater hat sich zur FASD-Fachkraft weitergebildet. An mehreren Standorten begleitet die Hephata-Jugendhilfe in ihren Gruppen kognitiv eingeschränkte Kinder und Jugendliche, darunter Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen und fetaler Alkoholspektrumstörung (FASD). Letztere wird primär durch den Alkoholkonsum während der Schwangerschaft verursacht; bereits ein gelegentlicher Alkoholkonsum kann das Risiko für FASD erhöhen. 2mind sprach mit dem Pädagogen über die Begleitung von Kindern mit FASD in der Jugendhilfe. Die Fragen stellte Achim Halfmann.

2mind: Das Thema FASD wird in der Jugendhilfe derzeit stark diskutiert.

Jochen Merkel (Foto: Ev. Stiftung Hephata)

Jochen Merkel: Ja, die Informationen dazu werden immer mehr – ähnlich wie vor einigen Jahren bei der Autismus-Spektrum-Störung. Das Wissen über FASD steckt in Deutschland aber noch ziemlich in den Kinderschuhen – anders als etwa in den USA oder Kanada -, aber es bewegt sich vieles auf diesem Gebiet: Derzeit befindet sich ein Bundesverband mit dem Schwerpunkt FASD in Gründung. Es gibt bundesweit verschiedene Weiterbildungsangebote zur FASD-Fachkraft und es existiert mit PAFF ein Vernetzungstreffen von Praktiker:innen. Wichtig ist jetzt, das Störungsbild bekannter zu machen und entsprechende Expertisen zu schulen, weil viele Pädagog:innen und Träger da noch im Dunklen tappen. Man geht davon aus, dass jedes fünfte Kind in der Jugendhilfe von FASD betroffen ist. Deshalb müssen gerade die Träger der Jugendhilfe für dieses Thema sensibilisiert werden. Und wenn Träger offensiv damit werben, dass sie auf Kinder mit FASD eingestellt sind, dann kommen auch die Anfragen.

Die Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen oder FASD in einem Gruppensetting wird für die Jugendhilfe eine große Herausforderung darstellen.

Das ist allerdings eine große Herausforderung. Einige Träger haben sich mit spezifischen Wohngruppen auf den Bereich Autismus-Spektrum-Störungen eingestellt und bilden ein hochstrukturiertes Umfeld ab. Viele dieser Träger arbeiten analog dem “Treatment and Education of Autistic and related Communication handicapped Children“-Model, kurz TEACCH genannt, das mit Strukturierung und Visualisierung arbeitet. Im Bereich FASD ist diese Spezialisierung noch nicht so ausgeprägt. Es gibt das Eylarduswerk in Bad Bentheim, das sich FASD-spezifisch aufgestellt hat und zu den Leuchttürmen gehört. Es gibt stationäre Wohngruppen und betreute Wohngemeinschaften im Sonnenhof in Berlin und das Vinzenzwerk Handorf in Münster, aber sonst sieht es im Blick auf spezialisierte Einrichtungen noch relativ dünn aus.

Wir haben in der Hephata Jugendhilfe momentan eingestreute Plätze, das heißt: Wir haben durchaus Kinder und Jugendliche mit FASD, die als solche erkannt und definiert sind. Und wir begleiten sie in einem Gruppensetting. Damit ist die klassische Jugendhilfe mit ihren Wohngruppen mit acht, sieben oder selbst mit sechs Plätzen häufig überfordert.

Für das Störungsbild FASD sind – ähnlich wie für die Autismus-Spektrum-Störung – eingeschränkte Exekutivfunktionen kennzeichnend. Wir versuchen daher Methoden, die sich im Bereich Autismus bewährt haben, auf FASD zu übertragen. Denn Kindern und Jugendlichen mit beiden Störungsbildern fällt es schwer, Lernerfahrungen auf unterschiedliche soziale Situationen zu übertragen. Die beiden Diagnosen darf man dabei keinesfalls gleichsetzen, trotzdem können sich vergleichbare Methoden bei beiden Störungsbildern bewähren. In meiner Abschlussarbeit in der Ausbildung zur FASD-Fachkraft habe ich mir angeschaut, ob und wie sich TEACCH-Methoden für FASD-Betroffene eignen. Allerdings sind wir in Hephata noch nicht so weit, das in die Praxis umzusetzen. Und man muss dabei sagen, dass die Prognose für Menschen mit FASD deutlich ungünstiger ausfällt als für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung.

Eine Herausforderung für diese jungen Leute wird der Wechsel aus der öffentlichen Erziehung heraus in die Selbständigkeit darstellen. Was bedeutet das für FASD-Betroffene?

Der Wechsel ins Erwachsenenalter ist einer der Hauptkrisenherde für diese jungen Menschen; dazu läuft gerade viel auf Fachtagungen. Dieser Übergang ist ein so sensibler Bereich, weil damit feste Tagesstrukturen wie zum Beispiel der Schulbesuch wegbrechen und sich der Übergang ins Berufsleben häufig schwierig gestaltet. Ein Problem ist auch, dass wir noch zu wenig über FASD typische Lebensläufe wissen. Diese jungen Menschen sind ja nicht kognitiv begrenzt – zumindest nicht so, dass sie als geistig gehindert gelten würden. Und trotzdem schränkt sie FASD so stark ein, dass sie häufig nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen. fällt ihnen der Wechsel ins Berufsleben häufig sehr schwer. Wenn das Ausgangsproblem nicht erkannt wird, folgt eine Jobcenter-Maßnahme auf die andere und scheitert– und schließlich werden keine weiteren Maßnahmen angeboten.

Auch die Wohnsituation gestaltet sich schwierig, schon während der Zeit in öffentlicher Erziehungshilfe. Ich glaube, dass viele der sogenannten „Systemsprenger:innen“ FASD-Kinder sind. Da lässt sich häufig ein „Drehtüreffekt“ beobachten. Viele dieser Kinder leben außerdem in Pflegefamilien. Dort wird Außergewöhnliches geleistet; aber auch dort ist es schwierig, wenn geeignete Anschlussmaßnahmen fehlen.

Die Arbeit in der Hephata Jugendhilfe (Foto: Ev. Stiftung Hephata)

Die Situation der Kinder und Jugendlichen mit dem FASD-Syndrom ist für die Betroffenen selbst eine Herausforderung, aber ebenso für Pädagoginnen und Pädagogen in der Jugendhilfe. Was bedeutet das für Ihre Mitarbeitenden? Wie bereiten Sie die Fachkräfte vor? Und wie unterstützen Sie, damit der Job gelingt?

Ich glaube, dass da eine gute Fall- und Fachberatung im Team sehr wichtig ist. Als Bereichsleiter achte ich darauf, eine solche Beratung für meine Teams möglich zu machen. Ich finde es wichtig, dass solche Teams extern supervidiert werden, im Optimalfall auch durch Supervisor:innen, denen FASD bekannt ist. Wir haben bei uns in Hephata einen Kompetenzbereich FASD gegründet, wo wir versuchen, dass sich ein Team von etwa sieben Personen dazu stetig weiterbildet. Aufklärung ist ganz besonders wichtig, etwa im Blick darauf, was FASD für das klassische Bezugspädagog:innensystem in der Jugendhilfe bedeutet. Ich will nicht sagen, dieses System bei FASD versagt. Aber es birgt eine große Gefahr, dass die mit FASD-Klient:innen arbeitenden Personen sich verausgaben oder ausbrennen. Da muss man gut draufschauen und möglicherweise eine Rotation entwickeln, wie sie im Bezugspädagogensystem sonst nicht vorgesehen wird. Häufig wollen wir stabile Bindungen anbieten, die möglichst lange vorhalten. Im Sinne von Psychohygiene für die Mitarbeitenden sollten wir bei FASD-Betroffenen da anders verfahren und Wechsel vorsehen.

Und es braucht ganz viel Wissen über das Störungsbild: Wegen der guten verbalen Fähigkeiten der Betroffenen erscheint es oft so, als würden diese Kinder und Jugendlichen etwas nicht wollen. FASD ist aber mit einer Hirnschädigung verbunden und aus den guten verbalen lässt sich nicht auf praktische Fähigkeiten schließen. Wenn das Pädagog:innen klar ist, gibt es in der Praxis weniger Frust. Es ist für Mitarbeitende wichtig Resilienz zu entwickeln. Ich habe manchen Mitarbeitenden erlebt, der sagte: Wenn ich damals gewusst hätte, dass ich es mit einem Menschen mit FASD-Symptomatik zu tun hatte, dann hätte ich anders auf mich geachtet. Der Blick darauf ist eine Aufgabe für das Team – und für die Leitung.

Die Begleitung junger Menschen mit FASD ist  eine Team-Aufgabe.

Grundsätzlich ist ein Arbeiten in Netzwerken wichtig in der Jugendhilfe. Für die Begleitung von jungen Menschen mit FASD gilt das ganz besonders. Auf Fachtagungen kursiert zur Zeit der wohl aus Afrika stammende Spruch: Man braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. Gerade im Zusammenhang mit FASD gilt das: Es braucht Netzwerke, in denen sich Betroffene austauschen können. Ebenso brauchen Kernfamilien solche Netzwerke – und auch Pädagog:innen. Und wir müssen uns gemeinsam auf den Weg machen, um Therapiemöglichkeiten und pädagogische Unterstützung zu schaffen. Denn mit dem Personalschlüssel, den die Jugendhilfe derzeit bietet, fällt die Begleitung der Betroffenen schwer. FASD muss ein Thema für die ganze Jugendhilfe werden, wir müssen uns insgesamt breiter dazu aufstellen.

Was dann auch die Situation der Betroffenen beim Übergang in das Erwachsenenleben verbessern würde …

Aktuell ist das ein Riesenproblem ist; viele Betroffene von FASD bleiben nach den Jugendhilfemaßnahmen auf der Strecke, weil Anschlussmaßnahmen, Unterstützungsmöglichkeiten und Wissen fehlen. Die Hirnschädigung unterstützt bei manchen eine hohe Verführbarkeit und manche FASD-Betroffene landen in Kriminalität und Haft. Viele scheitern bereits während der Jugendhilfe, werden durch die Einrichtung gereicht und erleben immer wieder Abbrüche. Unsere Systeme sind da nicht passgenau, und das müssen wir ändern.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

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