
Welchen Einfluss besitzen Social Media auf diesen Trend? Das Gespräch mit der Psychiaterin Heike Thomas, DGD Klinik Hohe Mark
Wiesbaden / Oberursel (2mind) – Immer mehr Mädchen und weibliche Jugendliche kommen mit Essstörungen in stationäre Krankenhausbehandlung. Innerhalb der letzten 20 Jahre haben sich die Behandlungszahlen für 10- bis 17-Jährige verdoppelt, berichtete das Statistische Bundesamt in dieser Woche. Während sich die Gesamtzahl der Behandlungen wegen Essstörungen kaum veränderte, stieg der Anteil der Kinder und Jugendlichen von 23,4% im Jahr 2003 auf 49,3% im Jahr 2023. Etwa 3.000 junge Patientinnen wurden 2003 wegen Essstörungen behandelt, 20 Jahre später waren es etwa 6.000 junge Menschen.
Frauen sind mit 93,3% der Behandelten im Jahr 2023 deutlich häufiger von Essstörungen betroffen als Männer. Mit durchschnittlich etwa 53 Tagen lag die Behandlungsdauer bei Essstörungen deutlich über dem Durchschnitt anderer Erkrankungen. 2023 wurden zudem 78 durch Essstörungen verursachte Todesfälle erfasst.
In den Medien wird in dieser Woche mit Schlagzeilen wie „#Skinnytok: Magerwahn durch Social Media“ und „Mehr Essstörungen bei jungen Mädchen – Experten fordern Social-Media-Regeln von der Politik“ zu den steigenden Zahlen berichtet. Wie steht es um den Zusammenhang zwischen Social Media und der Entstehung von Essstörungen?
Social Media und Körperideale

Heike Thomas ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie an der DGD Klinik Hohe Mark in Oberursel bei Frankfurt. „Dass soziale Medien immer schon eine Rolle gespielt haben im Zusammenhang mit Essstörungen, steht für mich außer Frage“, sagt Thomas.
Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie sei der Bedarf in der Kinder- und Jugendpsychiatrie deutlich gestiegen. Beigetragen hätten Einsamkeit, soziale Isolation und auch eine höhere Mediennutzung. Allerdings: „Essstörungen gibt es schon extrem lange“, so Thomas – Jahrhunderte vor der Erfindung digitaler Medien. Bereits „im Mittelalter haben Mädchen gefastet, um sich unattraktiver zu machen und einer erzwungenen Heirat zu entgehen“, so die Oberärztin.
Sicher hätten die Medien einen Einfluss, indem sie etwa die Möglichkeit zu Vergleichen oder zum Austausch mit anderen steigerten. Bedeutsam sei auch die „Möglichkeit, in Social-Media-Kanälen das eigene Aussehen zu manipulieren.“ Medien nehmen Einfluss auf Körperideale und das Körperbild – und damit auch auf die Entstehung von Essstörungen. Aber Essstörungen seien eine multifaktorielle Erkrankung, so Thomas weiter, deshalb funktioniere es nicht zu sagen: „Die Medien werden abgestellt und die Essstörung ist wieder im Griff.“
Mehr als eine Ursache
Einfluss auf die Entwicklung von Essstörungen besitzen etwa genetische Belastungen oder familiäre Einflüsse, Gleichaltrigengruppen und etwa die Konkurrenz in bestimmten Mädchencliquen. Wie Thomas weiter berichtet, wird aktuell insbesondere zu der Fragestellung geforscht: „Mit welchem Anteil ist die Essstörung psychotherapeutisch zu behandeln“ und „inwieweit ist sie eine somatische Erkrankung“? So wird etwa der Einfluss von Mikroorganismen im Darmtrakt auf die Entstehung von Essstörungen untersucht.
Mit der Klinikaufnahme werden die Patientinnen angehalten, in den ersten Wochen auf die Nutzung sozialer Medien zu verzichten und sich auf sich selbst zu fokussieren.
In der psychotherapeutischen Behandlung geht es insbesondere um Körperbilder – und bei vielen Patientinnen spielen dabei soziale Medien eine Rolle. Aber, so Thomas weiter: „Die Auseinandersetzung mit Social Media steht bei uns nicht im Vordergrund.“
Breites Behandlungsspektrum
Für die Patientinnen sei es wichtig, an regelmäßiges Essen herangeführt zu werden und die Essensaufnahme wieder selbst steuern können. Anfangs bekommen die Patientinnen auf einem Tablet eine vorher besprochene Essensration serviert, die es aufzuessen gilt. Später lernen sie, aus einem vielseitigen Angebot die eigene Nahrung auszuwählen. Dazu werden individuelle Essverträge geschlossen und Essprotokolle geführt, die mit einer Bezugspflegekraft besprochen werden. Zum multimodalen Behandlungssystem gehören therapeutische Einzel- und Gruppengespräche, Psychoedukation, Bewegungs-, Ergo- und Maltherapie sowie in der christlichen Klinik ein reichhaltiges Seelsorgeangebot.
„Die Handynutzung in Therapien und Gruppenzusammenhängen ist nicht gestattet“, sagt Thomas. Allerdings komme man mit Verboten und Regularien nur begrenzt weiter. „Wichtig ist, sich über den Beziehungsaspekt mit den Patientinnen auseinanderzusetzen.“
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