
Die Solwodi-Vorsitzende Maria Decker verweist auf Leerstellen im Evaluationsbericht zum Prostituiertenschutzgesetz.
Koblenz (2mind) – Ende Juni legte die Bundesregierung einen Evaluationsbericht zum Prostituiertenschutzgesetz vor (> 2mind berichtete). Wie beurteilen Praktiker an der Basis die Studie? Maria Decker ist promovierte Wirtschaftsinformatikerin und 1. Vorsitzende von Solwodi. Die Organisation setzt sich für Frauen aus dem Migrations- oder Fluchtkontext ein, die Gewalt und Ausbeutung erfahren haben. Deutschlandweit begleitet Solwodi in 21 Fachberatungsstellen etwa zweitausendfünfhundert Betroffene von Gewalt. Das Gespräch führte Achim Halfmann.
2mind: Solwodi hat sich enttäuscht von dem Evaluationsbericht zum Prostituiertenschutzgesetz gezeigt. Was kritisieren Sie?

Dr. Maria Decker: Sehr viele der Frauen, die wir betreuen, stammen aus der Prostitution oder sind in der Prostitution. An mehreren Standorten leisten wir aufsuchende Arbeit im Prostitutionsmilieu, von daher haben wir aus der Praxis heraus einen guten Blick auf dieses Phänomen. Den Evaluationsbericht halten wir für nicht adäquat im Vergleich mit der Praxis.
Das fängt mit der Stichprobe an: Danach ist fast die Hälfte der Frauen deutsch und 27% haben einen Hochschulabschluss. Das ist nicht das, was wir in der aufsuchenden Arbeit sehen, und das hängt mit der gewählten Befragungsmethode zusammen – einer Online-Umfrage. Wir wissen aber: Viele Frauen in der Prostitution – über 90% – sind Migrantinnen und verfügen oft nur über geringe Sprachkenntnisse, teilweise auch nur einen geringen Alphabetisierungsgrad. Sehr vielen Frauen mit Minderheitenkontext – beispielsweise Roma – ist das Konzept einer Online-Umfrage fremd, selbst wenn es einen attraktiven Gutschein dafür gibt. Das haben wir auch bei uns in den Fachstellen gesehen, wo wir versucht haben, mit einigen Frauen diese Umfrage auszufüllen. Die meisten Frauen haben Recht schnell aufgegeben und gesagt: Das will ich nicht, das kann ich nicht, schreib einfach irgendetwas hin und gib mir den Gutschein. Das ist nicht Sinn der Sache und führt zu dieser verzerrten Stichprobe. Das Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen ist sich dessen bewusst: In ihrem Methodenteil haben sie sehr deutlich auf diese Verzerrung hingewiesen und darauf, dass die Ergebnisse nur für die Stichprobenpopulation gelten. Aber im Abschlusskapitel, in dem eine allgemeine Bewertung erfolgt, haben sie ihren eigenen Hinweis offenbar vergessen, denn da wird ganz allgemein von der Prostitution gesprochen.
Ein zweiter Kritikpunkt bezieht sich auf die Umfragen unter Gewerbetreibenden – also etwa den Bordellbesitzern – und unter Freiern. Diese Personengruppen profitieren von der jetzigen Gesetzgebung, ihre Antworten wurden aber völlig unhinterfragt übernommen. Da hätte ich mir aus wissenschaftlicher Sicht zumindest eine kritische Einordnung gewünscht.
Der dritte Kritikpunkt ist, dass große Bereiche der Prostitution, zum Beispiel die Straßenprostitution, kaum in der Evaluierung vorkommen. Zum einen hängt das mit der Umfrage-Methode zusammen, zum anderen aber auch damit, dass diese Bereiche im Gesetz kaum reguliert sind – und in der Evaluierung ging es ja um die Aufgaben dieses Gesetzes. Nur: Wenn ich solche Bereiche auslasse, kann ich hinterher nicht allgemein von der Prostitution sprechen und allgemeine Schlüsse ziehen, weil sehr große Leerstellen bleiben. Deshalb würde ich nicht empfehlen, dieser Evaluierung als Grundlage für weitere Gesetzesvorhaben zu verwenden.
Ihre Zielgruppe sind Frauen mit Migrationshintergrund. In die Studie wird ausgewiesen, dass eine relativ große Anzahl von Frauen in der Prostitution aus Thailand kommt und das in den letzten zwei Jahren die Zahl der Ukrainerinnen, die sich prostituieren, deutlich zugenommen hat. Deckt sich dies mit Ihren Beobachtungen?
Nein, bei den Thailänderinnen sehen wir keine Zunahme. Nach wie vor kommt der allergrößte Teil der Frauen aus osteuropäischen Ländern, vor allem aus Rumänien und Bulgarien, weil da das Aufenthaltsrecht kein Hindernis darstellt. Viele dieser Frauen sind Roma oder stammen aus anderen Minderheiten. Eine Zunahme sehen wir bei chinesischen Frauen. Im Blick auf Ukrainerinnen sehen wir in unserer aufsuchenden Arbeit keine Zunahme. Wir führen das daraufhin zurück, dass Ukrainerinnen seit dem Kriegsausbruch großzügige Unterstützungsleistungen und einen einfachen Zugang dazu erhalten. Das hält diese Frauen davon ab, in eine Armutsprostitution zu rutschen. Ich habe allerdings auch gehört, dass sich in einigen Städten – zum Beispiel in Berlin – die Anzahl der Ukrainerinnen erhöht hat, die sich nach dem Prostituiertenschutzgesetz anmelden. In den Städten, in denen wir aufsuchende Arbeit leisten, sehen wir das nicht.
Zum Stichwort Armutsprostitution: Wie kann es in unserer Wohlstandsgesellschaft dazu kommen?
Wir haben in der Tat einen sehr hohen Anteil an Armutsprostitution. Viele dieser Frauen stammen aus den Armenhäusern Europas: Zu uns kommen nicht die Akademikerinnen aus Sofia, sondern Frauen vom Land, teilweise aus Slumgebieten, aus Gegenden ohne Elektrizität und ohne Wasser. Der Anteil der Roma-Frauen ist hoch und manche Frauen werden von ihren Angehörigen nach Deutschland in die Prostitution geschickt, damit der Rest der Familie es besser hat. Viele dieser Frauen haben keinerlei Ausbildung und würden nur sehr schwer eine andere Arbeit finden. Und von daher ist die Prostitution für sie gefühlt alternativlos. Wenn wir mit den Frauen arbeiten, finden sich oft Wege, andere Tätigkeiten aufzunehmen und Qualifikationen zu erlangen. Aber woher soll so ein Mädchen wissen, dass es diese Möglichkeiten gibt?
Ein anderer großer Bereich ist die sogenannte Beschaffungsprostitution suchtabhängiger Frauen mit ihren körperlichen Zwängen. Es gibt emotionale Anhängigkeiten, etwa bei der Loverboy-Methode. Und es gibt natürlich auch den klassischen Menschenhandel. Die Zwänge sind vielfältig und das heißt nicht immer, dass die Frauen mit Handschellen gefesselt sind. Das Gutachten sagt: Wenn keine Gefahr für Leib und Leben besteht, dann ist Prostitution freiwillig. Aber das greift nicht bei Armuts- und bei Beschaffungsprostitution, denn auch das sind Zwänge.
In öffentlichen Stellungnahmen haben Sie sich sehr kritisch zu Überlegungen geäußert, eine Form der Registrierung auch für minderjährige Prostituierte einzuführen oder ein Gutachten zur Schädlichkeit der Prostitution hochschwangerer Frauen für deren Föten einzuholen. Kommt es vor, dass sich Hochschwangere tatsächlich noch prostituierten?
Ja, denn es gibt ein Markt dafür: Es gibt Männer, die gezielt danach suchen, die Sex mit Hochschwangeren haben wollen. Deshalb ist es für Zuhälter attraktiv, solche Frauen anzubieten. In der Evaluierung steht dazu, man könne die Tätigkeit vielleicht auf ungefährliche Handlungen beschränken, was ich für ziemlich blauäugig halte. Es gibt auch eine Kondompflicht nach dem Gesetz, die regelmäßig umgangen wird. Deshalb glaube ich nicht, dass man bei Hochschwangeren mit detaillierten Regelungen weiterkommt. Gynäkologen und Gynäkologinnen sagen mir übereinstimmend: Wenn eine Frau täglich mit vielen verschiedenen Männern Sex hat und schwere Männerkörper auf einer Frau liegen, dann ist das nicht gut für das ungeborene Leben. Für Hochschwangere gelten alle möglichen Beschäftigungsverbote: Bei uns in den Beratungsstellen erhalten hochschwangere Kolleginnen ein Beschäftigungsverbot und dürfen nicht beraten. Wenn also Frauen nicht beraten – also auf einem Bürostuhl sitzen und sich mit Klientinnen austauschen -, wohl aber bezahlten Sex haben dürfen, dann passt das für mich nicht zusammen.
Wie steht es um die Prostitution Minderjähriger: Erleben Sie minderjährige Migrantinnen, die sich prostituieren?
Tatsächlich treffen wir immer wieder auf Minderjährige. Teilweise sind es Betroffene von Menschenhandel, teilweise sind es von der Loverboy-Methode Betroffene, wir haben immer wieder minderjährige Klientinnen. Und gerade da ist die Dunkelziffer besonders hoch, denn offiziell ist die Prostitution Minderjähriger in Deutschland verboten und deshalb werden die jugendlichen Prostituierten nochmal besonders abgeschottet. Aber es gibt diese sogenannten Taschengeldtreffen und ähnliches, denn auch für minderjährige Prostituierte gibt es einen großen Markt.
Gesetzliche Regulierungen der Prostitution in Deutschland gelten im europäischen Vergleich als relativ liberal. Die Evaluation zielt auf eine Verbesserung des Prostituiertenschutzgesetzes. Es gibt aber auch Stimmen, die die Einführung des sogenannten Nordischen Modells in Deutschland fordern, nach dem ein Sexkauf illegal wäre und Freier bestraft würden. Wofür plädieren Sie: für ein verbessertes Prostituiertenschutzgesetz oder für einen Modellwechsel?
Ich glaube, dass wir einen Modellwechsel brauchen, weil das jetzige Modell von einer unzutreffenden Freiwilligkeitskonzeption ausgeht. Danach prostituieren sich Frauen im Wesentlichen selbstbestimmt, was aber nicht unserer Erfahrung entspricht. Deshalb glauben wir, dass wenige Verbesserungen am Gesetz nicht ausreichen werden. Wir stehen in Kontakt mit Sozialarbeiterinnen befreundeter Organisationen in Schweden und auch mit der schwedischen Polizei. Und wir sehen, dass es da einfach besser läuft: Es gibt dort weniger Kriminalität und weniger Gefahren für die Frauen. Diesen Punkt hat selbst die Evaluierung aufgezeigt: Das Gesetz in seiner aktuellen Ausgestaltung schützt nicht vor prostitutionstypischer Kriminalität, also vor Ausbeutung und Menschenhandel. In Schweden gibt es zwar auch noch Prostitution, aber die Frauen leben weitaus sicherer.
Wenn Sie auf die soziale Arbeit an der Basis schauen: Gibt es ausreichende Hilfen für Menschen in der Prostitution, oder klafft eine Lücke zwischen Bedarf und Angebot?
Da klafft schon eine deutliche Lücke: Es gibt in einigen Städten eine Finanzierung für die aufsuchende Arbeit in der Prostitution – aber noch lange nicht in jeder Stadt. Vor allen Dingen fehlen flächendeckende Ausstiegsprogramme, solche Programme gibt es in weniger als 10% der Städte in Deutschland. Ausstiegsbegleitung ist ein großer Komplex, dazu gehört unbedingt Wohnraum für die Frauen. Wer das Milieu verlassen möchte, kann nicht im Bordell wohnen bleiben. Viele der Frauen sind psychisch sehr instabil, viele haben Suchtprobleme oder leiden unter Krankheiten, denn die Prostitutionstätigkeit geht mit vielen gesundheitlichen Risiken einher. Die Frauen müssen zunächst stabilisiert werden, sich wieder an einen geregelten Tagesablauf gewöhnen. Sie brauchen ein anderes soziales Umfeld und andere soziale Kontakte. Oft kennen die Frauen nur das Prostitutionsmilieu und so braucht es seine Zeit, bis eine Frau vielleicht selbstständig arbeiten und für sich selbst sorgen kann. Das bleibt natürlich das Ziel, aber es kann – je nachdem, wie lange die Frau in der Prostitution war – ein weiter Weg dahin sein. Das ist nicht billig, aber diese langfristige Begleitung sind wir den Frauen aus humanitären Gründen schuldig.
Sie beschreiben, dass Frauen in den Bordellen wohnen. Nach dem Prostituiertenschutzgesetz dürfen diese Frauen nicht in den Räumen untergebracht werden, in denen sie arbeiten.
In der Praxis sehen wir, wie manche Bordellbesitzer das lösen: Sie bieten diesen Frauen einen Kellerraum oder eine Unterkunft im Dachgeschoss an, in der dann zahlreiche Hochbetten stehen. Das wäre nach dem Prostituiertenschutzgesetz in Ordnung, weil Wohn- und Arbeitsraum so getrennt sind, aber die Frauen stehen natürlich nach wie vor unter einer sehr engmaschigen Kontrolle.
Die Frauen berichten uns, dass ihnen kein Geld bleibt, um in eine andere Wohnung zu wechseln. Sie sind ja selbständig tätig und zahlen im Bordell eine Miete für das Zimmer, je nach Betreiber sind das 150 bis 250 Euro pro Tag. Dazu müssen sie im Bordell ihr Essen, Hygieneprodukte und ähnliche Artikel kaufen, weil sie in der Regel nicht raus können. Dazu kommen manchmal noch Abgaben für Security, und es werden 18,00 Euro für die Steuer eingezogen, wenn das Bordell dem Düsseldorfer Verfahren folgt. So kommen jeden Tag ein paar 100 Euro zusammen, bevor die Frau nur einen einzigen Freier bedient hat. Und wenn Zuhälter da sind – und es sind meistens Zuhälter da -, halten auch die ihre Hand auf. Dieser finanzielle Druck führt dazu, dass die Lage der Frauen zum allergrößten Teil so prekär ist es. Nur ganz wenige Frauen haben die Macht, für sich etwas Besseres herausholen. Solche Frauen mag es geben, das will ich gar nicht abstreiten, aber sie sind bei weitem nicht die Mehrheit. Und deshalb finde ich: Als Gesellschaft haben wir eine Verpflichtung, die Frauen in der Prostitution zu schützen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
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