München (2mind) – Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) hat seinen Abschlussbericht zur Situation ukrainischer Geflüchteter und den kommunalen Unterstützungsstrukturen vorgelegt. Insgesamt sei „die Situation für alle Geflüchteten sehr belastend und mit der Anstrengung verbunden, den Übergang von der Ukraine nach Deutschland möglichst bruchlos zu bewältigen“, heißt es in der Zusammenfassung. „Dabei fehlt es trotz vieler Koordinationsanstrengungen an Platzangeboten, Fachkräften, finanziellen Ressourcen und teils auch an ausreichender Angebotskenntnis seitens der Zielgruppe.“ 2mind sprach mit der DJI-Mitarbeiterin Sophia Chabursky über die Situation junger Geflüchteter aus der Ukraine.
Frau Chabursky, was waren Ihre Aufgaben in dem DJI-Forschungsprojekt?
Sophia Chabursky: Ich bin für das Teilprojekt 3 verantwortlich und habe Interviews mit aus der Ukraine geflüchteten Jugendlichen geführt. Da meine Mutter Ukrainerin ist, spreche ich deren Sprache, sodass ich die Interviews auf Ukrainisch führen konnte. Für die Jugendlichen, die sich sonst um das Erlernen der deutschen Sprache bemühen, ergab sich dadurch eine umgekehrte Rollenverteilung: Sie waren die Sprachexperten und konnten sich auf allen Gebieten gut ausdrücken.
Gesprochen habe ich mit 25 Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 18 Jahren, bei einer in etwa gleichmäßigen Verteilung von Alter und Geschlecht.
Worum ging es in diesen Gesprächen?
In den Gesprächen ging es um die Erfahrungen der Jugendlichen mit dem Krieg in der Ukraine, um ihren Fluchtgrund und darum, wie die Flucht verlief. Wir wollten von ihnen wissen, wie die Flucht abgelaufen ist, weshalb sie Deutschland als Zielland gewählt haben, wie gut hier ihre Integration in Schule gelungen ist und womit sie ihre Freizeit verbringen. Und wir wollten etwas erfahren über Freundschaften und Familienbeziehungen, das psychische Wohlbefinden, den Zugang zu Dienstleistungssystemen und ihre Bleibeabsicht.
Sie haben das Thema „Kriegserfahrungen“ angesprochen. Sind manche dieser jungen Menschen traumatisiert?
Die meisten dieser Jugendlichen sind zu Anfang des Krieges geflohen, viele aus den Kriegsgebieten im Westen der Ukraine. Alle, mit denen wir sprachen, haben den Krieg auf irgendeine Art und Weise miterlebt: Sie waren zumindest von Bombenwarnungen betroffen und haben die Kriegsflugzeuge gesehen. Manche Jugendlichen mussten Monate in Kellern verbringen, sahen Tote und wurden Zeugen von Kriegsverbrechen.
Und auch heute erleben sie den Krieg in der Ukraine aktiv mit: Fast alle Väter sind dortgeblieben, die Großeltern oder andere Verwandte sind davon betroffen. Das motiviert sie, die Nachrichten zu verfolgen.
Manche Jugendlichen geraten dadurch in eine für sie belastende Nachrichtenspirale. Dann ist für einige die Schule hilfreich, weil sie eine Tagesstruktur bietet und hilft, den ständigen Nachrichtenkonsum zu durchbrechen.
Jeder Jugendliche verarbeitet erlittene Traumata auf seine Art und Weise und zu seinem Zeitpunkt. Wir haben nach der Nutzung von Psychotherapie oder Beratungsangeboten gefragt, manche haben dazu Infos von ihren Lehrkräften erhalten. Viele haben geantwortet, dass sie diese Hilfe nicht brauchen; nur ein Jugendlicher war tatsächlich in therapeutischer Behandlung.
In unseren Interviews haben wir Hinweise auf posttraumatische Belastungsstörungen heraushören können: dass etwa laute Geräusche wie ein starkes Türschlagen Herzklopfen auslösen oder Jugendliche von Albträumen berichteten. Aber für die meisten war zunächst das Ankommen in Deutschland wichtig; die psychischen Belastungen werden möglicherweise zum Thema, wenn sie sich der Sprache mächtiger fühlen. Jetzt verarbeiten manche den Stress, indem sie Musik hören, Sport treiben oder mit Familienmitgliedern oder Freunden reden.
Zum Thema Sport treiben: Haben die jungen Ukrainer in Deutschland Zugang zu Vereinen gefunden?
Viele dieser jungen Leute haben in der Ukraine sehr intensiv Vereinssport betrieben, nahezu an jedem Tag. Wenn ein deutscher Verein zwei Trainings pro Woche und ein Turnier am Wochenende anbietet, ist das einigen Jugendlichen nicht genug. Freizeitkultur mit Sportangeboten wie Fußball oder Tanz wird in der Ukraine viel intensiver gelebt als in Deutschland.
Hilfreich war, dass deutsche Vereine ihre Angebote diesen Jugendlichen kostenlos angeboten haben, das wurde sehr gerne genutzt. Und oft haben Lehrkräfte oder Freunde geholfen, dass sie die zu ihnen passenden Angebote gefunden haben.
Haben ukrainische Jugendliche auch Zurückweisung oder Ablehnung erfahren?
Leider ja: Es gab einige erschreckende Berichte über Mobbing und Gewalt. Da haben zum Beispiel andere Jugendliche mit Putin-Masken Parolen gerufen und haben die jungen Ukrainer teilweise körperlich bedrängt. Solche extremen Mobbingfälle haben wir in unserer kleinen Stichprobe eher aus den Mittelschulen als von den Gymnasien gehört. Für eine repräsentative Aussage war unsere Stichprobe aber zu klein.
Und es gab natürlich genauso positive Erfahrungen, dass Ukrainerinnen von ihren Mitschülerinnen mit offenen Armen empfangen und unterstützt wurden. Eine Jugendliche erzählte beispielsweise, dass ihr eine Mitschülerin einen Fahrradhelm schenkte – eine für sie wichtige Erfahrung. Im Allgemeinen fühlen sich die Jugendlichen willkommen in Deutschland.
Wie war das Ankommen im deutschen Schulsystem für die jungen Leute aus der Ukraine?
Jedes Bundesland hat das anders organisiert: In manchen gab es Willkommens- oder Integrationsklassen, in anderen wurden die Jugendlichen gleich in Regelklassen integriert.
Hier in meinem Bundesland Bayern wurde eine Brückenklasse pro Schule eingerichtet, in der es für die Jugendlichen unterschiedlichen Alters primär um das Erlernen der deutschen Sprache ging. Da war es aus Sicht der Jugendlichen nicht leicht, ein angemessenes Lerntempo zu finden, und manche ältere wollten ein anspruchsvolleres Deutsch lernen.
Viele der jungen Leute aus der Ukraine fanden es gut, in einer Klasse zu sein, in der sie ihre Heimatsprache sprechen konnten. Wenn Jugendliche zwischen den Integrationsklassen und ihrer eigentlichen Klasse hin und her wechselten, erschwerte das den Kontaktaufbau zu deutschen Jugendlichen.
Insgesamt war der Spracherwerb eine große Hürde für diese Jugendlichen. Die meisten sprechen Englisch und sind dadurch mit dem lateinischen Alphabet vertrau. Aber der Sprachunterricht in der Ukraine ist anders strukturiert. Während manche Brückenklassen im zurückliegenden Schuljahr das B2-Niveau erreichten, blieben andere auf A2. Im Unterricht kann das dann eine sehr frustrierende Erfahrung sein, wenn man eigentlich vieles beitragen könnte, aber der Sprache nicht mächtig ist.
Das Ankommen in den Klassen gelang insgesamt sehr unterschiedlich, wobei das Engagement der Lehrkräfte und Schulleiter eine wichtige Rolle spielte. Wir haben von sehr engagierten Pädagogen gehört, die über ihre Lehrpläne hinaus zusätzliche Hilfen anboten oder mit einem Klassenfrühstück die Willkommenskultur stärkten. Das war aber auch abhängig von den an einer Schule zur Verfügung stehenden zeitlichen und personellen Ressourcen. Schulen ohne solche Ressourcen konnten deutlich weniger leisten.
Wie planen die jungen Leute aus der Ukraine ihre Zukunft: Wollen sie in Deutschland bleiben?
Da steht es etwa 50:50. Viele wollen zurück zu ihrem Vater oder ihren Verwandte. Wenn auch der Vater in Deutschland leben würde, wäre das vielleicht anders. Es gibt aber auch diejenigen, die nach dem Krieg in Deutschland bleiben möchten.
Dass viele ukrainische Jugendliche Deutschland bereits nach wenigen Monaten als ihre „zweite Heimat“ bezeichnen, spricht für die guten Erfahrungen, die sie hier gemacht haben. Und deutlich ist ebenso, dass die meisten dieser Jugendlichen mit der Ukraine verbunden bleiben und ihrem Land etwas zurückgeben möchten.
Unsere Interviews haben wir im Herbst des letzten Jahres geführt: Die Frage nach der Zukunft der Ukraine war unsicher, sodass auch die jungen Leute für ihre eigene Zukunft kaum planen konnten. Viele sind hoffnungsvoll, dass die Ukraine den Krieg gewinnt.
Vielen Dank für das Gespräch!